Messknechte

von: Holger Koch, Wildemann

Eine volle Viertelstunde lag er nun schon in dieser Stellung, und der fummelte nun immer noch an diesem `blöden` Neigungsmesser `rum! Eigentlich konnte man die Bezeichnung `Liegen` auch nur als stark geschönt betrachten! Die Beine hatte er rechtwinklig nach oben abgeknickt, in eine enge Röhre in der Firste geklemmt. Sein Rücken lag auf kantigem Blockwerk, das die Sohle dieses so genannten `Ganges` bildete. Den rechten Arm unter dem Körper eingeklemmt, versuchte er mit der linken Hand die um seinen Daumen gewickelte Messschnur stramm zu halten. Dass die Schnur sich dabei schmerzhaft in seinen Daumen einschnitt, nahm er schon gar nicht mehr wahr. Wenn der doch nur endlich mit seiner `Messmittelpflege` fertig werden würde! Er meinte den anderen Kameraden, der einige Meter von ihm entfernt, in einer ähnlichen Spalte, damit beschäftigt war mit penibler Pedanterie auch das letzte Klümpchen Lehm aus der Optik des Neigungsmessers zu entfernen. "So, gleich haben wir`s!" meinte dieser, und hängte das Messwerkzeug auf die Schnur. "Nu zitter doch nich` so! Kannst`e die Schnur nich` ruhig halten?!" Gerne hätte er eine passende `Antwort` gegeben, doch jedes Mal wenn er den Mund aufmachte fiel ihm allerlei `Krümelkram` `rein, und so verzichtete er auf eine Entgegnung. Aus diesem Grunde hielt er auch die Augen fast geschlossen; es gab ja sowieso nichts zu sehen in diesem elenden Loch!

 
"Minus 23,17!" Dieses galt dem dritten Mann, der auf einer `Empore` etwas über den Beiden am Rande der Spalte saß. Der Messrahmen lag auf seinen übereinander geschlagenen Knien, der Bleistift war ihm entglitten, der Kopf auf die Brust gesunken! "Mann! Wir rackern uns hier im Dreck ab, und der pennt schon wieder!! NEIGUNG: MINUS DREIUNDZWANZIGKOMMASIEBZEHN !!!!!" Mit einem kurzen Schnarcher schreckte der Dritte auf! "Was? Wie?... Entschuldigung! Ich hab` das eben nicht verstanden!" Er sammelte schnell den Bleistift auf, und notierte den Wert, der ihm jetzt zum dritten Mal zugerufen wurde. "Kann ich die Schnur jetzt endlich loslassen?" quetschte der Erste zwischen den Zähnen hervor. "Wenn der `Herr Obervermessungsrat` nun endlich die Neigung notiert hat!" "Ja, ich kann ja nichts dafür, wenn ihr ne` Viertelstunde braucht um eine Neigung zu messen!" meinte der. "Du dummes A... ! Ich hatte Lehm in der Optik!!" "Das ist mir schon mehrfach aufgefallen, das dein Blick nich` mehr ganz klar is`" kam die prompte Entgegnung. Und während die Beiden mit `schlagenden Argumenten` darüber diskutierten, wessen Blick wohl nun am Meisten getrübt wäre, versuchte der Erste sich aus seiner misslichen Lage zu befreien! Doch, was war das?? Seine Beine waren weg!! Weder zu spüren, noch zu bewegen waren sie!! Sie baumelten nutzlos am Körper herunter, wie Wiener Würstchen! "Meine Beine sind eingeschlafen!" ächzte er, während er sich mühsam über die Kante des Spalts zog. "Nächstes Mal nehmen wir einen Wecker mit, den brauchen wir sowieso!" tröstete der Zweite ihn, mit einem Seitenblick auf den `Obervermessungsrat`. Doch der bemerkte den Seitenhieb nicht. Er war damit beschäftigt, die Umrisse des Raumes, und das `Inventar` zu zeichnen.


Der Erste hatte seine eingeschlafenen Beine durch heftiges Schütteln inzwischen wieder zum Leben erweckt, und festgestellt, dass es von nun an ziemlich großräumig weiter ging. "So, jetzt werden erst `mal Meter gemacht!" Er schnappte sich den Akkubohrhammer, drückte dem Zweiten die Kiste mit Dübeln und Messpunktösen `aufs Auge`, und kurz darauf verkündete nur noch das Rattern des Bohrhammers aus den angrenzenden Räumen, das die Beiden damit beschäftigt waren weitere Messzüge zu legen. Nach etwa einer halben Stunde hatte der Dritte die Aufnahme des ersten Raumes abgeschlossen. Er klappte den Messrahmen zu, steckte sorgfältig den Bleistift weg, und wunderte sich, dass es plötzlich so still geworden war. Von den Anderen war kein Laut mehr zu hören! Die sollten doch nicht etwa auch.... ?? Das wäre ja prima, wenn er die auch mal beim `Pennen` erwischen könnte!! Leise schlich er auf die Gangbiegung zu, um die Anderen zu überraschen. Doch das Erste was passierte, als er dann plötzlich um die Ecke stürzte, war das eine lehmverschmierte Messschnur ihm einen braunen Strich durchs Gesicht zog! Er zuckte zurück, knallte mit dem Helm gegen die Firste, seine Füße konnten die ruckartige Bewegung auf dem schmierigen Boden nicht mehr ausbalancieren... und Sekundenbruchteile später war sein beschlatztes Hinterteil in einer lehmigen Pfütze gelandet! "Mann, bei dir ging`s wie geschmiert!!" Das laute Gelächter der beiden Anderen hallte von den Wänden der Halle wider. Er verzichtete auf eine Reaktion, das hätte nur noch mehr `Lästereien` hervorgerufen. Doch was hatten die Beiden da angestellt?!? Das was er sah, erinnerte ihn eher an das Netz von `Tante Meta` als an einen Höhlenraum! Die ganze Halle war kreuz und quer mit Messfäden vollgespannt! Diese `Strippen` führten sogar im Zick Zack in die weiterführenden Gänge! "Was soll das denn werden?" rief er entsetzt. "Das wirst du gleich seh`n!" wurde ihm entgegnet "Los! Los! Messrahmen raus! Jetzt kommt die Akkordmessung!" Und kaum hatte er den Messrahmen aufgeklappt, den Bleistift gezückt, da prasselten auch schon die Messwerte auf ihn ein! Und während er verbissen Wert um Wert notierte, die Messblätter umblätterte, schwor er `grausame Rache` für diese `Gemeinheit`. Den schmierigsten, engsten und längsten Schluf würde er aussuchen: Da könnten die dann erst mal ein Präzisionsnivellement durchlegen! Und was er insgeheim schon befürchtet hatte trat dann auch tatsächlich ein: "So, nu` kann`ste erst mal in `aller Ruhe` den ganzen Kram zeichnen! Wir machen jetzt erst `mal `ne kleine Besichtigungstour in die oberen Räume!" So hatten die sich das ausgedacht! Aber, da konnte man nichts machen. Außerdem konnte er auf `dumme Sprüche` während des Zeichnens gerne verzichten! Das lenkt sowieso nur ab. "Ja, ja, macht man!" brummte er "Ihr steht hier sowieso nur im Weg `rum!" fügte er noch bissig hinzu. Und während die Beiden versuchten in der angrenzenden Halle einen Kamin in die oberen Räume zu erklimmen, vertiefte er sich wieder in seinen `Papierkram`. 
Er war gerade dabei in einer kleinen Nische mit seinem Zollstock die Raumabmessungen zu nehmen, als sein Blick auf einen kleinen, braunen Lehmklumpen fiel, der eine merkwürdige Form aufwies. Das war doch nicht etwa...? Doch, tatsächlich!! Ein kleines Öllämpchen!!! Diese Blindfische! Seine Laune besserte sich zusehends. Da waren die nun hier stundenlang `rumgekrochen, aber das Beste hatten sie übersehen! Und während er mit frischer Begeisterung weiterzeichnete, freute er sich schon auf die dummen Gesichter der Anderen, wenn er ihnen von seinem Fund berichten würde! Doch die dachten anscheinend gar nicht daran, wiederzukommen. Als er nach 2 Stunden die letzten fünf Messzüge schon selber erledigt hatte, hörte er endlich aus einem Seitengang ihre Stimmen. Und wenige Augenblicke später stürzten ihm zwei strahlende und lachende Höhlenforscher entgegen: "Komm, las den Messkram mal liegen, du musst dir unbedingt was ansehen!" Sie zerrten ihn förmlich zu dem Kamin in dem sie vorhin verschwunden waren. Und als er nach einer `wilden Kraxelei` und einigen kleineren Gängen in ein kleines Loch geschickt wird, das er schon von der letzten Befahrung kannte, ahnt er schon, dass er nachher einen dicken Strich durch seine bisherigen GGl Berechnungen machen wird! "Das war doch letztes Mal alles mit Blockwerk verrollt?" "Sicher", wird ihm entgegnet "Wir haben eben mal ein bisschen gebuddelt!" Und als er sich durch das freigelegte Loch schiebt, trifft ihn fast der Schlag! Eine gewaltige Halle empfängt ihn, die sich nach links und rechts im Dunkel weiterer Fortsetzungen verliert! Das Echo hallt von den dunklen Wänden wider, als er mit zittriger Stimme eine Frage stellt. Nur ein einziges Wort kommt über seine Lippen: "WIEVIEL ???" Sein Blick fällt auf zwei grinsende Gesichter: "Na, ein paar hundert Meter werden es schon sein!" "Bernhard hat `da Oben` noch ein paar `kleinere Räume` entdeckt!" entgegnet der größere der Beiden, und deutet mit einer weiten Bewegung in das Dunkel der oberen Fortsetzung. Der Angesprochene steht mit vor der Brust verschränkten Armen da, und wippt auf den Zehenspitzen, während er vieldeutig meint: "Die nächsten Jahre haben wir bestimmt genug zu tun!" 


Das ist zuviel für des `Obersteigers` schwache Nerven! Mit weichen Knien setzt er sich erst mal auf den nächsten Block, und schüttelt den Kopf. "Ihr habt ja gar keine Ahnung, was ihr da angerichtet habt! Das ist doch alles viel zu groß hier! Da müssen ganz andere Vermessungsmethoden her, sonst wird das Alles viel zu ungenau!" Und während sie die neuentdeckten Räume `abschreiten` entstehen vor seinem fachmännischem Auge Bilder der zukünftigen Vermessung: Laserstrahlen durchzucken die Hallen, gleißendes Licht aus dutzenden Filmleuchten entreißt auch die letzte kleine Nische dem Schutz der Dunkelheit! Die Bildschirme der Computer leuchten geheimnisvoll aus der Finsternis! Und die Optiken der Tachymeter und Niveliers blitzen auf, wenn sie vom Licht der Laser getroffen werden. Matt schimmernde Niv-Bolzen tauchen vor seinem geistigen Auge auf, und hunderte von chromglänzenden Messpunkten werden die grauen Höhlenwände zieren! 

Nach weiteren 2 Stunden haben die Drei die `Kurzinspektion` der neuen Räume abgeschlossen, und sind wieder am Ausgangspunkt ihrer Vermessung angelangt. Dort werden noch schnell die letzten Messwerte genommen, und die Geräte zusammengepackt. Auch der `Obervermessungsrat` kommt noch zu seinem Erfolgserlebnis, als er vom Fund des Öllämpchens berichtet. Und als Sie nach 9 Stunden in der kühlen, unterirdischen Welt wieder in das Licht der warmen Abendsonne treten, sind sie sich alle einig: Dieses Höhlensystem wird sie in den kommenden Jahren noch viele Wochenenden Arbeit kosten! Sie werden Vermessungstürme bauen, kilometerlange Oberflächennivellements durch die Landschaft legen. Sie werden metertiefe Löcher für dutzende von Gelände-Messpunkten graben, und so manche schlaflose Nacht vor ihren Computerbildschirmen verbringen! Und doch wird es Tage geben, an denen man keinen dieser Spezies von der Gattung `Höhlenforscher` sehen wird. Dann nämlich, wenn sie sich zurückerinnern an den Ort wo all das begann. Dann wird man sie in einer anderen Höhle finden. In irgendeinem verfluchten, elendigen Spalt, die Messschnur zwischen den Zähnen und das verlehmte Maßband in den Händen! Das Wasser wird ihnen in die Stiefel laufen, während sie die Optik des Neigungsmessers reinigen, und der Bohrstaub in die Augen rieseln, beim Setzen der Messpunkte! Warum sie das alles tun?? Nun, das wird wohl die einzige Frage bleiben, die keiner von ihnen mit Worten beantworten kann. Dazu muss man wohl selbst im kühlen Schlamm der unterirdischen Welt gelegen haben, um die Antwort zu `fühlen`!